Wehr- und sicherheitspolitisches Bulletin Nr. 17/12/20
14. Dezember 2020
Wenn im Herbst und im Advent die Tage immer kürzer werden, dann haben wir die Gewissheit, dass mit Weihnachten ein Umschwung erfolgen wird. Die Tages- und Jahresrhythmen wiederholen sich verlässlich. Es braucht wenig prophetisches Geschick, um in der Nacht einen neuen Tagesanbruch vorauszusagen.
In den Zeiten des alten Ägypten war die korrekte Voraussage der Nilüberschwemmungen die Grundlage der Landwirtschaft und damit des Wohlstandes. Heute verwenden wir Szenariotechniken, um zukünftige Entwicklungen zu prognostizieren. Da gibt es dann das Trendszenario, das heutige Verhältnisse in die Zukunft fortschreibt. Aber auch Best-Case- und Worst-Case- Szenarien sind denkbar. Im Ägypten des Altertums oblag es dem Gottkönig, dem Pharao, die Sterne zu deuten. Heute definieren Experten, welches Szenario als das wahrscheinlichste angenommen wird.
Sicherheitspolitische Vorschau
Für die gültige „Österreichische Sicherheitsstrategie“ (ÖSS, 2013) wurden derartige Analysen vorgenommen. Die ÖSS beschreibt daher eine Reihe von Bedrohungen, die im 21. Jahrhundert denkbar sind. 2018 wurde das „Bedrohungsbild 2030“ erstellt, und jährlich publiziert die Direktion für Sicherheitspolitik eine aktualisierte Jahresvorschau. Diese konstatiert einen Trend zur laufenden Verschlechterung der internationalen Sicherheitslage.
Soldaten lernen vom Beginn ihrer Kaderausbildung an, den Konfliktparteien kein Verhalten zu unterstellen, das den eigenen Vorteil beschönigt und Gefahren ignoriert. Folglich sind militärische Experten in ihren Analysen stets näher am Worst-Case-Szenario als Zivilisten. Die Logik dabei ist: Wenn ich das schlimmste Szenario bewältigen kann, dann schaffe ich auch die anderen. Und nachdem der Auftrag an das Bundesheer lautet, die strategische Handlungsreserve der Republik zu sein – also zu helfen, wenn andere nicht mehr können –, ist es auch legitim, sich gerade auf diese Szenarien vorzubereiten.
Sicherheitspolitik nach Pippi Langstrumpf
„Ich mach mir die Welt, wi di wi di wie sie mir gefällt“, singt Pippi Langstrumpf. Wenn man dieses Prinzip auf das Bundesheer anwendet, dann dreht man den Strategieprozess einfach um. Man leitet nicht mehr die Mittel von den Aufgaben ab, sondern passt die Aufgaben an die Mittel an. „So viel Geld, so viel Bundesheer“ lautet dann die Devise, der in Österreich tatsächlich seit Jahren gefolgt wird. Dazu muss die Bedrohungslage verniedlicht oder die Eintrittswahrscheinlichkeit reduziert werden.
Allerdings kann man heute feststellen, dass die Szenarien der militärischen Experten sehr treffsicher waren: Die Massenmigration führte 2015/2016 zu einem Zusammenbruch der Grenzkontrollen; die Cyberattacken auf das Außenministerium und systemrelevante Unternehmen weisen darauf hin, dass hybride Bedrohungen kein Fantasieprodukt sind; vor einer Pandemie wurde im Jänner 2020 beim Sicherheitspolitischen Jahresauftakt gewarnt, seit März hält sie uns fest im Griff; der Terroranschlag von Wien zeigt auf, dass bereits ein Einzeltäter eine gewaltige Zahl an Einsatzkräften bindet.
Black Swan
Angesichts dramatischer Ereignisse werden politische Verantwortungsträger nicht müde darauf hinzuweisen, dass alles sehr überraschend gekommen sei. Gerne wird dann die Metapher vom schwarzen Schwan verwendet. Meistens wird noch hinzugefügt, dass man aber trotzdem rasch Herr der Lage gewesen sei. Doch wahr ist vielmehr, dass es sich eben meist nicht um strategische Überraschungen gehandelt hat, sondern dass man sich auf bekannte Gefahren einfach nicht ausreichend vorbereitet hat.
Wer übernimmt die Verantwortung dafür, dass Warnungen ignoriert wurden? Muss immer erst etwas geschehen, damit etwas geschieht?
Wer hört Kassandra?
In der antiken Mythologie hatte Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs, die Fähigkeit der Weissagung, aber das Schicksal, dass ihren Warnungen kein Gehör geschenkt wurde. Die List des Odysseus ging auf, das trojanische Pferd wurde in die Stadt gelassen, Troja fiel den Flammen zum Opfer und wurde völlig zerstört.
Sind auch die Warnungen aus den militärstrategischen Papieren Kassandra- Rufe? Warum werden die Analysen des Zustandsberichts „Unser Heer 2030“ ignoriert? Warum werden jene, die den Istzustand des Bundesheeres ansprechen, als Nestbeschmutzer bezeichnet? Wieso behandelt man Brandmelder wie Brandstifter?
Die Österreichische Offiziersgesellschaft vertritt seit vielen Jahren klare Positionen. Minister kamen, Minister gingen. Verschiedene Parteien Landesverteidigung. Als Offiziere sind wir keine Parteisoldaten, sondern dienen dem Land. Unser Herz schlägt für Rot-Weiß-Rot. Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen, ist unser Leitgedanke. Si vis pacem para bellum – wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Es klingt paradox, das Bundesheer als den bewaffneten Arm der Friedensbewegung zu bezeichnen. Und doch hat es seine Berechtigung.
Blackout – die größte Gefahr
Eine Bedrohung mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit und größten negativen Auswirkungen ist ein sogenanntes Blackout – also ein längerfristiger überregionaler Stromausfall. Dabei ist die Ursache – technisches Gebrechen, menschliches Versagen, kriminelle oder terroristische Erpressung, hybride Kriegsführung – hinsichtlich der Folgen für die Bevölkerung irrelevant.
Der Pandemielockdown führt uns bereits vor Augen, welche Probleme durch den Wegfall zahlreicher Leistungen entstehen. Wenn dann aber noch der Strom, das Wasser, die Heizung, Radio und TV, die Telekommunikation und das Internet, die Lebensmittelversorgung, das Verkehrs- und Gesundheitssystem nicht mehr verfügbar sind, kommt unsere Gesellschaft ganz schnell an ihre Grenzen. Und es muss bezweifelt werden, dass die Einsatzkräfte darauf ausreichend vorbereitet und durchhaltefähig sind.
Renaissance der Umfassenden Landesverteidigung
Vor diesem Hintergrund sind alle Anstrengungen, die derzeit unternommen werden, um die Umfassende Landesverteidigung wieder mit Leben zu erfüllen, zu begrüßen. Denn die Bewältigung staatsbedrohender Gefahren kann nur im Zusammenwirken aller Akteure erfolgen. Die Resilienz, also die Wehrhaftigkeit einer Gesellschaft, ist ein Produkt aus Wehrwillen und Wehrfähigkeit. Diese könnte in Österreich am Ende des Jahres 2020 besser sein. Es gibt also noch viel zu tun. Bei der militärischen Komponente sollen in den nächsten Jahren durch neue Milizinitiativen die Personalstärke und damit die Durchhaltefähigkeit erhöht werden. Doch es wird auch Investitionen in die verloren gegangene Autarkie brauchen. Und ebenso ohne schwere Waffen und Lufthoheit ist militärische Landesverteidigung nicht möglich. Doch auch die anderen Ressorts werden sich ihrer Verantwortung besinnen müssen – für geistige Landesverteidigung, für Bevorratung und staatliche Autarkie, für Zivilschutz und Eigenvorsorge.
In diesem Sinne wünsche ich allen Mitgliedern der Offiziersgesellschaft und allen Lesern ein friedliches Jahresende und einen guten Rutsch – möge uns „Murphy’s law“, nämlich dass alles schiefgehen wird, was schiefgehen kann, möglichst lange verschonen.
Mag. Erich Cibulka, Brigadier Präsident der Österreichischen Offiziersgesellschaft
PS: Im „Offizier“ 3/2020 wurde ein offener Brief der Plattform Wehrhaftes Österreich vom 15. Juli 2020 an den Bundeskanzler und den Vizekanzler abgedruckt. Nach nochmaliger Urgenz per Einschreiben hat eine Assistentin von Vizekanzler Werner Kogler eine recht floskelhafte Antwort gesendet. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat bis zum Redaktionsschluss nicht geantwortet.
Dieser Brief des Präsidenten wurde im „Offizier“ 4/2020 veröffentlicht. Die elektronische Version des Offizier finden sie hier zum Download und hier zum Blättern!
Quelle: oeog.at
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